Eine sorgebasierte Wissenschaftstheorie entwickelt Vrinda Dalmiya in ihrem Buch „Caring to Know“ (2016). Demnach stellen persönliche Sorgeerfahrungen als Sorgeleistende und Sorgeempfangende die erkenntnistheoretischen Grundlagen dar. Darüber hinaus geht es darum Wissen und Sorgen nicht künstlich voneinander zu trennen. Das Verständnis von Wissen umfasst demnach konkrete und subjektive Elemente, die androzentrisches Denken und Wissen von sich weisen. Zukünftig kann das im Sinne von Caring Sciences (siehe Kleinert 2022) weitergeführt werden.
Übersicht
Sorgebedarf, Sorgebedürfnisse
Unter Sorgebedarf wird der gesamte Umfang dessen verstanden, was an Sorgeleistungen für eine Gesellschaft, eine Gruppe oder einen einzelnen Menschen erforderlich ist. Als Sorgebedürfnisse werden die grundlegenden von den Menschen empfundenen Bedürfnisse bezeichnet, die sich aufs Sorgen und Versorgen beziehen. Sorgebedürfnisse müssen erfüllt werden, damit Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können. Existenzielle Sorgebedürfnisse mögen in konkreten Fällen sehr umfangreich sein, aber sie sind weder endlos noch beliebig vermehrbar. Mit ihrer Erfüllung ist immer auch die Frage verbunden, wer dafür in einer Gesellschaft zuständig ist. In den meisten Gesellschaften ist die Erfüllung der Sorgebedürfnisse zutiefst vergeschlechtlicht.
Sorgebewegung
Unter den sozialen Bewegungen ist die Sorgebewegung noch neu, auch wenn sie schon vor mehr als 20 Jahren gefordert wurde: „We need a movement to demons- trate that caring is not a free resource, that caring is hard and skilled work, that it takes time and devotion, and that people who do it are making sacrifices“ (Stone 2000; siehe auch Engster 2010). Mittlerweile wurden Care-Manifeste verfasst, das Netzwerk Care Revolution gegründet, zu Streiks im Sorgebereich aufgerufen und vieles mehr. Das alles deutet darauf hin, „dass eine weltweite Sorgebewegung in Gang kommt, die das Ziel hat, auf Sorgedefizite und Sorgekrisen, die oft schlechten Arbeitsbedingungen, geringe Bezahlung und unzureichende soziale Absicherung aufmerksam zu machen und dringend notwendige Verbesserungen einzufordern“ (Knobloch 2020a, S. 116 f.). Ein wichtiger Teil dieser Sorgebewegung sind schon bestehende und neu entstehende Sorgenetzwerke, die durch eine Vernetzung untereinander nochmals mehr bewegen können (vgl. Knobloch/Kleinert/Jochimsen 2022). Die Sorgebewegung reagiert nicht nur auf die weltweiten Sorgekrise(n), sondern auch auf die ökologische Krise (vgl. z. B. Winker 2021; FdN 2022).
Sorgebeziehung
Über die effektive Ausführung von konkreten Sorgetätigkeiten wird zwischen Sorgeleistenden und Sorgeempfangenden eine Beziehung hergestellt. Aufgrund der in vielen Fällen vorliegenden existenziellen Abhängigkeit der Sorgeempfangenden von den Sorgetätigkeiten ist die Sorgebeziehung oft von Asymmetrie und wechselseitigen Abhängigkeiten geprägt (vgl. Jochimsen 2003a, S. 75 ff.).
Sorgedefizit
Von einem Sorgedefizit als „a lack of paid care (or affordable paid care) and a lack of or insufficient informal, unpaid, family care“ (Zimmerman/Litt/Bose 2006, 371) wird gesprochen, wenn der Bedarf an Sorgeleistungen nicht gedeckt wird und eine Mangelsituation eintritt, wenn also mehr Sorgearbeit benötigt als geleistet wird bzw. werden kann. Wenn Sorgedefizite nicht auf einzelne Haushalte beschränkt bleiben, sondern sich regional, national oder weltweit ausdehnen, entsteht eine Sorgekrise (vgl. Knobloch 2013a, S. 24).
Sorgediamant
Der Sorgediamant ist ein auf eine der Ecken gestelltes Viereck, mit dessen Hilfe die Angebotsstruktur im Sorgebereich und das gesellschaftliche Sorgeregime verdeutlicht werden kann (vgl. Razavi 2007, S. 21). Denn Sorgearbeit wird (mindestens) in folgenden vier Sektoren angeboten: öffentlicher Sektor (Staat), Marktsektor (gewinnorientierte Unternehmen), Non-Profit-Sektor (Non-Pro- fit-Organisationen) und Haushaltssektor (private Haushalte). Synonym wird auch von einem Vier-Sektoren-Modell gesprochen.
Sorgedienstleistungen
Sorgedienstleistungen sind personenbezogene Dienstleistungen in den bezahlten Sorgebereichen. Sorgedienstleistungen werden nicht nur, aber oft für Menschen erbracht, die sich nicht selbständig versorgen können, sondern auf Hilfe und Unterstützung anderer Menschen angewiesen sind – manchmal vorübergehend, manchmal durchgehend. Für die Qualität ihrer Erbringung spielen zwischen-menschliche Beziehungen, fachliche Kompetenz, Zeit sowie eine angemessene materielle und finanzielle Ausstattung Ressourcen einschließlich einer wertschätzenden Bezahlung der Sorgedienstleistenden eine zentrale Rolle.
Sorgeempfangende
Als Sorgeempfangende, oder auch zu Versorgende, werden Personen bezeichnet, die umsorgt und versorgt werden, für die Sorgearbeit geleistet wird. Demgegenüber werden als die Personen bezeichnet, die umsorgen und versorgen. Diese beiden Positionen im Care Arrangement schließen einander nicht aus, denn viele sorgeempfangende Personen geben auch Sorge. Über die effektive Ausführung einer Sorgetätigkeit wird zwischen Sorgeempfangenden und Sorgeleistenden eine Sorgebeziehung hergestellt.
Sorgeerfahrung
Sorgeerfahrung umfasst Wissen und Kompetenzen, die Menschen während der Sorgephasen in ihrem Leben erwerben. Alle Menschen sammeln in ihrem Leben Sorgeerfahrung, zum einen als Sorgeleistende, wenn sie sich um andere Menschen kümmern, und zum anderen Sorgeempfangende, wenn andere Menschen sich um sie kümmern.
Sorgeethik
Als zentraler Teil der Feministischen Ethik ist seit den 1980er Jahren eine universale Sorgeethik entwickelt worden, die von der Verletzlichkeit der Menschen und ihr existenzielles Angewiesensein auf andere Menschen als anthropologische Konstante ausgeht: „The heart of care ethics […] is that people do care for others that this is a part of our daily lives in the mundane sense, and constitutive of our subjectivities and identities in a more profound ontological and moral This activity of caring is not peripherical to our lives; it constitutes what makes us who we are“ (Robinson 2013, S. 136). Die verschiedenen Ansätze einer universalen Sorgeethik sind in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von der Gerechtigkeitsethik zunächst für die individuelle Handlungsebene entstanden (vgl. Gilligan 1982/1988), dann aber auch für die politische und globale Ebene weitergedacht worden (vgl. Tronto 1993; Robinson 1999). Schon früh finden sich in der Fachliteratur auch Überlegungen dazu, wie wir sorgende Normen (engl.: caring norms) lernen (vgl. Oliner/Oliner 1995, Kap. 4).